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Alle Einrichtungen der modernen Gesellschaften, die durch das Präfix "tele" charakterisiert werden, dienen ausschließlich der Verleugnung von Distanzen. (Martin Heidegger: Sein und Zeit. Tübingen Niemeyer 1997, S. 105). So produzieren z.B. die Television, das Telefon oder die Telekommunikation eine Illusion von Intimität und Anwesendheit, man kann sie auch als Fernanwesenheit bezeichnen.
Wenn auch nach Balzac nur als "Lichthäute" bezeichnet (S. 129), kann z.B. ein immortalisiertes Portrait nicht mehr durch ein zwischenzeitlich gealterte Mimik gestört werden. Die Strategie der Immortalisierung zur Tötung inklinierter Gesichter brauchen keine Körper. Dass der konsequente Aufbau eines medialen Doubles zur Tötung des Originals beitragen mag, ist nicht nur an der Pariser Verfolgungsjagd am 31. August 1997 zu demonstrieren, sondern auch an zahlreichen Attentaten, die von Fans verübt wurden. So Varilio, der über den geglückten frühen Tod einer virtuellen Kunstfigur schrieb (S.129), dass das alterslose Bild den alternden Körper ersetze.
Zur Verdeutlichung neuartiger Sachverhalte werden in der Sprache oftmals Metaphern eingesetzt. So können wir auch zur Beschreibung des Computers in seiner kommunikativen Funktion eine neue "konzeptuelle" Metapher bilden, The Computer is a Gate for a real Virtuality, die das Prinzip für die Entwicklung zahlreicher kommunikativer Verhaltensweisen, die seit der Einführung der Computertechnologie zu beobachten sind, beschreibt. Es wird nun notwendig, erst einmal eine Typologie für Seinszustände in virtuellen Räumen zu erstellen. Unter Seinszuständen wollen wir im folgenden die metaphorischen Ausdrücke Spiegelung, Parallelität, Substitution und Assoziation verstehen und beschreiben:

(1) Spiegelung der Realität in eine Virtualität - sie drückt sich in einer existentiellen Doppelung von Real- und Spiegelwelten aus - es entstehen Formen der Parallelität, der Substitution und Assoziation.
a) Unter Parallelität verstehen wir dabei parallele Existenzweisen von Real- und Spiegelwelt. Sie ist die Konkretion der Doppelung.
b) Die Substitution hingegen weist auf einen substitutiven Doppelungsprozess hin. Unter ihr versteht man die Seinskonkretion der Doppelung von Virtualität und Realität, den partiellen oder gar gänzlichen Ersatz von Teilsegmenten der Realwelt durch virtuelle Welten. So stellt z. B. das Tamagotchi (virtuelles Huhn) ein Beispiel für eine substitutive Seinsweise dar, ersetzt es doch bereits den Hamster in real life.
c) Assoziation meint die Verknüpfung von real life und virtuellen Seinsweisen. Die Dialektik von Realraum und virtuellem Raum führt dabei zu qualitativ neuen Lebensformen, wobei der virtuelle Raum der entscheidende Indikator für gesellschaftliche Transformationsprozesse sein wird. Die Virtualisierung des Seins ist der Motor von Transformationsprozessen in unserer Gesellschaft.

(2) Veränderungen vollziehen sich auch in der Semantik des Raumverständnisses (vgl. Paetau 1996). Der euklidische und newtonsche Raumbegriff weicht zunehmend einer relationalen Raumvorstellung, in der soziale Räume immer mehr als ein virtuelles Netzwerk von Kommunikation, abgekoppelt von geographischen Voraussetzungen, erfahren werden. Der Cyberspace, die Möglichkeit von Sozialität unter Abstraktion von körperlicher Realität, erscheint so als ein weiteres Moment gesellschaftlicher Abstraktion (vgl. Bühl 1996). Über welche Identitätspotentiale diese neue Form von Sozialität verfügt, liegt einerseits in einer gesteigerten Kommunikation mit einer enormen Integrationswirkung in einer virtuellen globalen Weltgesellschaft, andererseits wird sie in einer neuen Ausdifferenzierung mit zentrifugalen Wirkungen gesehen, einer Fragmentierung der Öffentlichkeit und Ausdifferenzierung in Teilrationalitäten.

(3) Eine neue Qualität mit sinnlich-wahrnehmbaren Elementen im virtuellen ermöglicht es auch, die ganze Welt sinnlich zu alphabetisieren, also Systeme von akustischen, visuellen, taktilen, olfaktorischen, schwerkraftbezogenen und eventuell weiteren sinnlichen Elementen zu entwickeln, die eine Verfügbarkeit der Welt darstellen, die weit über die Erkenntnis per Sprache hinausgeht. Dem Phänomen der Virtualität, wie wir es im Spiegelbild oder im Cyberspace erleben, stellt Foucault (1990) hinsichtlich der gesellschaftlich-räumlich-örtlichen Gegebenheiten allerdings die "Heterotopien" gegenüber. Darunter versteht er Orte, die anders sind als normale Orte des Alltagslebens einer Gesellschaft. Wie ein Spiegelbild verweisen sie die Gesellschaft auf sich selbst. Orte der abweichenden Abläufe und Rhythmen sind z. B. Sanatorien, psychiatrische Kliniken, Gefängnisse oder Friedhöfe, Parks, Gärten, Museen, Bibliotheken, Festwiesen, Kinos, Theater, Bordelle und Klöster. Ihre Abweichungen bestätigen die Regeln des Alltags, da die Sichtbarmachung der Normabweichung die Norm stabilisiert. Heterotopien hinsichtlich der Virtualität, also von Seinszuständen wie Spiegelung, Parallelität, Substitution und Assoziation, müssten demnach in der Realität gesucht werden.

Von der anderen Seite betrachtet gibt es für jedes Ereignis in unserer tradierten Welt bei der Berührung mit dem Computer ein virtuell-heterotopes Gegenereignis. Sprungartig wächst die Menge der Ereignisse, die Resultate virtuell-heterotoper Gegenwelten sind. Hier entsteht auch die Genese von homunculus digitalis (vgl. Sagawe 1997). Durch das Medium Schrift erst wurde der voralphabetische Körper, der homunculus realis, zum alphabetischen Körperselbstbild homunculus textualis umgeschaffen. Durch die Erfindung digitaler Medien evoluierte er zum technomedialen Körper, zum homunculus digitalis. Die Zeiten, in denen Aussagen auf ihre Wahrheit hin überprüft werden konnten, scheinen unwiederbringlich vorbei zu sein. Begriffe wie "objektive Realität", "Widerspiegelung" und "Abbild" werden - nachdem sie theoretisch schon längst in Frage gestellt wurden - nun ad absurdum geführt und realisieren sich als heterotope virtuelle Realität.

Der zentrale Vorgang am Ende unseres Jahrtausends ist die Virtualisierung des Seins, worunter wir einen Prozess verstehen, bei dem die Kommunikation mikro- und makrosoziologischer Bereiche zunehmend in virtuellen Räumen stattfindet und eine computergenerierte Entwicklungsumgebung evoziert. Sie führt zu einer neuen Form der Soziabilität. Kulturelle Muster sowie unser Raumbegriff selbst werden sich ändern. Gesellschaftliche Transformations- und Kulturationsprozesse können dabei nur im Kontext der Dialektik von Virtualität und Realität hinreichend erfaßt werden. Bei der Beurteilung der kulturellen Folgen im Hinblick auf die technische Ersetzbarkeit des Menschen als homunculus digitalis oder gar die Kolonialisierbarkeit des Menschenkörpers (vgl. Ellrich 1996) kann mit Virilio (1996) argumentiert werden: Wir müssen zwischen präsemantischer Wahrnehmung und sozialer Kommunikation unterscheiden. Die daraus abgeleitete Kernfrage aber bleibt, ob medial erzeugte Bilder sprachlich geprägte Kontrollmuster zunehmend außer Kraft setzen oder eventuell verstärken.

Man kann die genannte präsemantische Wahrnehmung auf der Folie der konventionellen Body-Mind-Trennung dem Bewußtsein zuschlagen, - um diese dann - wie etwa bei Luhmann (Luhmann 1995), der Kommunikation als eigenständigem System der Sinnesverarbeitung gegenüberzustellen - oder aber als eine Aktivität auffassen, an der sich ein wichtiger Aspekt der körperlichen Einflussnahmen auf die Produktion gesellschaftlich relevanten Wissens niederschlägt. (Ellrich 1996:91)

Computertechnologien sind Alltagstechnologien

Der Nutzer vertraut sich unbenommen den unpersönlichen elektronischen Schaltprozessen wie den programmierten Strukturen der Speicher an. Real werden dabei die elektronischen Wirklichkeitsanteile, die für die menschlichen Sinne aufbereitet werden.

Definition 1: Die physikalische Ralität des Computers - durch den Menschen strukturierte Soft- und Hardware - läßt einen Ralitätsstatus hervorbringen, die "Virtualle Ralität" .
Quelle: Coy, Wolfgang (1999): "I´M LOOKING THROUGH YOU, YOU´RE NOT THE SAME", in Faßler Manfred (Hrsg.), Alle möglichen Welten, München:Fink, Seite 29.

Definition 2: Die künstliche, aus Maschinenoperationen, Zeichenstrukturen und menschlichen Handlungen und Wahrnehmungen geschaffene Welt. Sie wird Schritt für Schritt zu einer besonderen sozialen Welt, einer technisch erzeugten sozialen Sonderwelt mit einem neuen gesellschaftlichen Erfahrungsraum, in dem Interaktion über technische Interaktivitäten geschaffen werden.
Quelle: Rammert, Werner (1999): "Virtuelle Ralitäten als medial erzeugte Sonderwirklichkeiten", in: Faßler Manfred (Hrsg.), Alle möglichen Welten, München:Fink, Seite 34

Computer als Wirklichkeitserzeuger

Möglichkeiten wie abstrakte Raummodelle schrittweise zu verdeutlichen den nicht existierenden Raum im Gegensatz zum existierenden physikalischen raum ist inzwischen zu einem Realitätsstandard geworden (virtual enviroment). Dieses sinnlich-wirkliche Umgebensein von einem (autodynamischen) virtuellen Weltaussschnitt ist eine der auffälligsten Veränderungen der Wahrnehmungsbedingungen (Faßler, S. 50).

Sowie sich die Phillosophie mit dem Linguistik-Turn auf Sprachhandeln einstimmte, können wir in diesem Zusammenhang vom Cybernetik-Turn sprechen und nach den Modalitäten der Wahrnehmung fragen, wie der Mensch und was er wahrnimmt.

Elektronische mediale Welten sind grundständig instabile Wirklichkeiten unserer Wahrnehmung. Dies liegt insbesondere an der asynchronen Kommunikation, also an der zeitlich versetzten Erzeugung von Umgebung. Liegt hier der große Freiheitsschritt menschlichen Handelns und Wahrnehmens?

Die Virtuelle Realität bildet nicht nur mehr Gesehenes und Erkanntes ab, sondern bezieht sich auf anderes Wissen(-strukturen), auf einen anderen Umgang mit Komplexität, Fremdheit und Handlung, als der Vertraute und Normierte. Virtuelle Ralität ist zu einem Modell: Kultur geworden und Faßler fragt, ob sie gar zu einem Kulturmodell geworden ist? (S.52)
(Hier setzen nun Untersuchungen ein, die sich z.B. mit der Kommunikation in Chat-Räumen, E-Mail-Schreibstilen, Benutzerverhalten etc. beschäftigen.)