1.3.2. Jugend und Identitätsentwicklung

Man kann die Phase der Jugend als Verbindung zwischen der Gesellschaft und dem Heranwachsenden betrachten, in deren Verlauf der Jugendliche eine persönliche Identität entwickeln soll. Die Jugendzeit wird dabei gemeinhin als soziokulturelle Übergangsphase[1] angesehen, in der gesellschaftliche Institutionen und die mit ihnen verbundene Verhaltenserwartung die Entwicklung von Heranwachsenden bestimmen. In intensiver Auseinandersetzung mit der kulturellen Realität entwickeln Jugendliche Züge ihrer persönlichen Identität. Sie sollen ihren eigenen Stellenwert, ihre eigentliche gesellschaftliche Rolle bestimmen und dafür Fähigkeiten und Fertigkeiten entfalten. Kurzum: sie sollen nicht nur kommunikative Fähigkeiten entwickeln, sondern auch sich situationsgerecht und gleichzeitig prinzipiengeleitet wie auch flexibel zu verhalten lernen. Dieser Prozeß findet hauptsächlich in gleichaltrigen Gruppen statt.

Versuchen wir, diese Identitätstheorie von Erikson (1970) auf die heutige Jugend zu beziehen, so würde das wohl bedeuten, daß eine Identifikation die Existenz von Identitätsfaktoren voraussetzt. Sie setzt kulturelle, regionale, familiäre, milieubedingte, traditionelle und soziale Leitbilder voraus, für die die zunehmende Differenzierung der gesellschaftlichen Verhältnisse aber kaum Platz läßt. In einer Zeit, wo entscheidende Faktoren zur Bildung der persönlichen Identität eine geringere Bedeutung erhalten haben und Ersatz nicht in Sicht ist, haben Jugendliche es schwer, eine solche Identität auszubilden.

Die Enttraditionalisierung, die Ablösung der Jugend von der Familie erschwert es nun noch mehr, neue Identitäten zu entwickeln. Ein Sachverhalt, der viele Jugendliche verunsichert, der zu Unzufriedenheit und Desorientierung führt. Die Situation ist ambivalent: auf der einen Seite das Schwinden herkömmlicher Identitätsbilder, mit anderen Worten Emanzipation von religiösen, moralischen und kulturellen "Zwängen", auf der anderen Seite das Fehlen, die "Nicht-Entwicklung" neuer Leitbilder. Angesichts dieser schwierigen Situation stellt sich die Frage, worauf eine Identität eigentlich basieren soll, es scheint angesichts des sozialen Wandels nicht die eine, einzige, unwandelbare Identität gefragt zu sein, sondern eher eine flexible, multiple Identität, mit ständiger Anpassung an eine komplexe und interdependente Realität.

Aber dies bedeutet auch, die Jugend für ihre Identitäts- und Individualitätsbildung selber verantwortlich zu machen - unabhängig davon, ob sie hierzu überhaupt in der Lage ist. Sie sieht sich dem gesellschaftlichen Anspruch ausgesetzt, ihre Zukunft selbst zu planen und ihre soziale Position selbst zu bestimmen. Eine Aufgabe, die ein hohes Maß an Kompetenz und Fähigkeiten erfordert, das der Jugendliche ohne Anleitung jedoch nicht immer leisten kann.

Bezogen auf die "empirische Realität" des FöJ und seiner Teilnehmer bedeutet dies, Fragen nachzugehen wie der, wie Jugendliche eine Ich-Identität und damit einen konstruktiven gesellschaftsbezogenen Realismus entwickeln können, wenn sie überall nur Brüche, mangelnde Gewißheiten und Verunsicherung wahrnehmen, das Leben und die Zukunft von atomarer, chemischer, gentechnischer Gefahr bedroht und zum Untergang verurteilt sehen.[2 ] Teile der heutigen Jugend sind so in eine bedrohliche psychische Verfassung geraten.

Neue Werte aus einer Hinwendung zum Privaten, zum Individuellen, zu Humanität, zur Selbstentfaltung und -verwirklichung, zum Unmittelbaren, zur intensiven Gefühlswelt und zum Irrationalen sind entstanden. Das bedeutet aber generell keine neue Entwicklung, solche Tendenzen sind schon seit der Jugendbewegung um 1900 feststellbar.Ziehe[3] charakterisierte diesen, heute sich wieder neu entfaltenden Trend als ein Verlangen nach Subjektivierung, das sich in einer Erhöhung der Sehnsucht danach ausdrücke, daß die Lebensbedingungen, in denen man steht, emotionalisiert und gefühlsmäßig angereichert werden. Auch werde die Entwicklung von der Empfindsamkeit des eigenen Selbstwertgefühls beeinflußt, von der Angst, gekränkt zu werden, und von einer Verlagerung von Motivationen, jedoch weniger von der Suche nach lustbesetzten Situationen, sondern mehr von der Tendenz zur Vermeidung unlustbesetzter Situationen und vor allem aber vom Wunsche, betroffen zu sein. Probleme und Sachverhalte wie Umweltkrisen und apokalyptische Prophezeihungen scheinen geeignete Objekte, die dahingehend untersucht werden, was sie mit einem selbst zu tun haben können, um sie sodann für die Begründung des eigenen Handelns vereinnahmen zu können. Ihr Motor ist die Zukunftsangst, obwohl viele Jugendliche in einem sehr hohen Maße bereit sind, gegebene Belastungen hinzunehmen, auch wenn sie sehr bedrückend sein mögen. Diese als "neurotische Rigidität"[4] bezeichnete Situation wird in der entwicklungspsychologischen Forschung als eine wesentliche Variable bei der Entstehung von Werten und im Vollzug von Handlungen angesehen und ist stark bei den mit dem Prädikat der Ökologie versehenen Gruppierungen ausgeprägt.

Schließlich sollen noch zwei Momente der Identitätsentwicklung in Erwägung gezogen werden. Es wurde erwähnt, daß die Identitätsentwicklung Jugendlicher hauptsächlich in peer-groups5 stattfindet. In gleichaltrigen Gruppen, in der Schule und in Jugendverbänden wird den Jugendlichen die Möglichkeit gegeben, ungestört durch die Welt der Erwachsenen einen Zugang zur gesellschaftlichen Wirklichkeit zu bekommen. Da Familie angesichts ihrer Struktur (Großfamilie-Kernfamilie) oftmals nicht mehr in der Lage ist, die notwendigen Handlungskompetenzen bezüglich der gesellschaftlichen Realität zu vermitteln, soll die Integration der Jugend in die Erwachsenenwelt über altershomogene Gruppen stattfinden. Peer-groups haben daher einen Doppelcharakter, zum einen bieten sie eine vertrauensvolle Atmosphäre, ähnlich der Familie, zum anderen vermitteln sie die Mechanismen der gesellschaftlichen Wirklichkeit, die Jugendliche zu ihrer Integration benötigen. Sie sollen, ohne daß Selbstwertgefühle der Jugendlichen verletzt werden, soziale Kompetenz und eigene Lebensstile vermitteln. Besonders in peer-groups können Jugendliche ihre persönliche Entfaltung realisieren. Sie lernen, ihre eigene Rolle zu übernehmen, sie werden mit verschiedenen Möglichkeiten der Auseinandersetzung mit kulturellen und gesellschaftlichen Bedingungen vertraut. Der Sozialisationsprozeß wird erst in gleichaltrigen Gruppen vollendet.

Diese Entwicklung findet jedoch nicht immer ohne Komplikationen statt. Die Anerkennung der Jugendlichen durch die peer-group setzt die Verfolgung der Ziele und Zwecke der gleichaltrigen Gruppe voraus. Diese bietet den Mitgliedern oftmals Ansehen und Bedeutung, wenn sie den von der Gesellschaft durch Werbung und Massenmedien suggerierten Leitbildern entspricht. Welche Identifikationen bieten aber die Leitbilder der Massenmedien der Jugend an? Heitmeyer und Sander[6] vertreten die Meinung, daß derartige Leitbilder die Jugendlichen noch unsicherer machen. Es werde hier eine doppelte Verunsicherung heraufbeschworen, da man in ständiger Sorge lebe, der Erwartungshaltung der peer-groups wie jener, die sich in der Regel an den Medien orientieren, nicht oder nur unzureichend gerecht zu werden.

Auch kann die Reizüberflutung durch diese Medien zu einer Dissonanzbereitschaft führen. Unter Dissonanz versteht man Mißklänge in einem sonst harmonischen Ablauf. Jugendliche wachsen mit Widersprüchen auf und sollen damit umgehen können. Früher hätte man solch eine Fähigkeit als Bewußtseinsspaltung bezeichnet, heute wird sie von Psychologen als eine notwendige Fähigkeit beschrieben, um im nächsten Jahrtausend überleben zu können und nicht an den Gegensätzen von Informationen und Realität zu zerbrechen, die ein globales Informationsnetz über die elektronischen Medien ununterbrochen auf uns niederrieseln läßt. Gerd Gerken[7] nennt dieses Phänomen "Neue Gleichgültigkeit" und meint damit die Fähigkeit, Unvereinbares zu vereinen und alles "gleich gültig" zu machen. Gegensätzliche Informationen werden dabei im Gehirn nicht mehr, wie früher, in Beziehung gesetzt. Henner Ertel[8] hat in seinen Untersuchungen in diesem Zusammenhang festgestellt, daß durch solch eine Reizüberflutung das Gehirn sich weigert, in Aktion zu treten, feine Empfindungen würden aus unserem Bewußtsein einfach herausgefiltert. Harald Rau[9] sieht eine Begründung darin, daß die "Vernetzung im Gehirn reduziert und die Kapazität durch parallel geschaltete direkte Reizleitungen enorm erhöht wird"[10]. Das Gehirn hat offenbar seine Strategien verändert, mit den neuen Lebenssituationen fertig zu werden, und stürzt den Menschen nicht in einen Konflikt, wenn er z.B. Mitglied bei Robin Wood oder Greenpeace ist und trotzdem ein Auto mit 200 PS fährt.

Eine Persönlichkeitsentwicklung wird zudem noch dadurch behindert, daß Jugendliche in einer Epoche, die geprägt ist von Leistung und Erfolg, im Vergleich zu anderen Mitgliedern der Gesellschaft eher schlecht abschneiden und somit oft unreflektiert in die Wärme von peer-groups flüchten: die blinde Verfolgung von Gruppenzielen, Beeinträchtigungen im Sozialverhalten sowie Störungen in der Persönlichkeit können die unerwünschte Folge sein.

Fazit: der Prozeß der Identitätsentwicklung ist für Jugendliche ein äußerst kompliziertes, multifaktorielles und recht störanfälliges Geschehen, jeher von Risiken und Gefahren geprägt, welche die harmonische Entfaltung der Persönlichkeit auf vielfache Weise erschweren können.