Mensch im Netz
"Sein im Netz"

Auszug aus dem Aufsatz: Das Internet im interkulturellen Vergleich.
von Helmuth Sagawe
In: TextConText, Zeitschrift für Translation, Theorie, Didaktik, Praxis, Vol. 13.2 = NF 3.2, 1999

Kommunikatives Handeln in sozio-technischen virtuellen Räumen scheint inzwischen in ein überaus komplexes Umfeld eingebettet zu sein. Es beeinflußt im nicht-rationalen Bereich das Verhalten des Menschen dahingehend, dass er sich zumindest in eine zwischenmenschliche kommunikative Handlungssituation versetzt glaubt und damit in virtuellen Räumen neue Realitäten und neue Kommunikationselemente und -strukturen schafft.

Zur Verdeutlichung neuartiger Sachverhalte werden in der Sprache oftmals Metaphern eingesetzt. So können wir auch zur Beschreibung des Computers in seiner kommunikativen Funktion eine neue "konzeptuelle" Metapher bilden, The Computer is a Gate for a real Virtuality, die das Prinzip für die Entwicklung zahlreicher kommunikativer Verhaltensweisen, die seit der Einführung der Computertechnologie zu beobachten sind, beschreibt. Es wird nun notwendig, erst einmal eine Typologie für Seinszustände in virtuellen Räumen zu erstellen. Unter Seinszuständen wollen wir im folgenden die metaphorischen Ausdrücke Spiegelung, Parallelität, Substitution und Assoziation verstehen und beschreiben:

(1) Spiegelung der Realität in eine Virtualität – sie drückt sich in einer existentiellen Doppelung von Real- und Spiegelwelten aus – es entstehen Formen der Parallelität, der Substitution und Assoziation.

Unter Parallelität verstehen wir dabei parallele Existenzweisen von Real- und Spiegelwelt. Sie ist die Konkretion der Doppelung.

Die Substitution hingegen weist auf einen substitutiven Doppelungsprozess hin. Unter ihr versteht man die Seins-konkretion der Doppelung von Virtualität und Realität, den partiellen oder gar gänzlichen Ersatz von Teilsegmenten der Realwelt durch virtuelle Welten. So stellt z. B. das Tamagotchi (virtuelles Huhn) ein Beispiel für eine substitutive Seinsweise dar, ersetzt es doch bereits den Hamster in real life.

Assoziation meint die Verknüpfung von real life und virtuellen Seinsweisen. Die Dialektik von Realraum und virtuellem Raum führt dabei zu qualitativ neuen Lebensformen, wobei der virtuelle Raum der entscheidende Indikator für gesellschaftliche Transformationsprozesse sein wird. Die Virtualisierung des Seins ist der Motor von Transformationsprozessen in unserer Gesellschaft.

(2) Veränderungen vollziehen sich auch in der Semantik des Raumverständnisses (vgl. Paetau 1996). Der euklidische und newtonsche Raumbegriff weicht zunehmend einer relationalen Raumvorstellung, in der soziale Räume immer mehr als ein virtuelles Netzwerk von Kommunikation, abgekoppelt von geographischen Voraussetzungen, erfahren werden. Der Cyberspace, die Möglichkeit von Sozialität unter Abstraktion von körperlicher Realität, erscheint so als ein weiteres Moment gesellschaftlicher Abstraktion (vgl. Bühl 1996). Über welche Identitätspotentiale diese neue Form von Sozialität verfügt, liegt einerseits in einer gesteigerten Kommunikation mit einer enormen Integrationswirkung in einer virtuellen globalen Weltgesellschaft, andererseits wird sie in einer neuen Ausdifferenzierung mit zentrifugalen Wirkungen gesehen, einer Fragmentierung der Öffentlichkeit und Ausdifferenzierung in Teilrationalitäten.

(3) Eine neue Qualität mit sinnlich-wahrnehmbaren Elementen im virtuellen ermöglicht es auch, die ganze Welt sinnlich zu alphabetisieren, also Systeme von akustischen, visuellen, taktilen, olfaktorischen, schwerkraftbezogenen und eventuell weiteren sinnlichen Elementen zu entwickeln, die eine Verfügbarkeit der Welt darstellen, die weit über die Erkenntnis per Sprache hinausgeht.

Dem Phänomen der Virtualität, wie wir es im Spiegelbild oder im Cyberspace erleben, stellt Foucault (1990) hinsichtlich der gesellschaftlich-räumlich-örtlichen Gegebenheiten allerdings die "Heterotopien" gegenüber. Darunter versteht er Orte, die anders sind als normale Orte des Alltagslebens einer Gesellschaft. Wie ein Spiegelbild verweisen sie die Gesellschaft auf sich selbst. Orte der abweichenden Abläufe und Rhythmen sind z. B. Sanatorien, psychiatrische Kliniken, Gefängnisse oder Friedhöfe, Parks, Gärten, Museen, Bibliotheken, Festwiesen, Kinos, Theater, Bordelle und Klöster. Ihre Abweichungen bestätigen die Regeln des Alltags, da die Sichtbarmachung der Normabweichung die Norm stabilisiert. Heterotopien hinsichtlich der Virtualität, also von Seinszuständen wie Spiegelung, Parallelität, Substitution und Assoziation, müssten demnach in der Realität gesucht werden.

Von der anderen Seite betrachtet gibt es für jedes Ereignis in unserer tradierten Welt bei der Berührung mit dem Computer ein virtuell-heterotopes Gegenereignis. Sprungartig wächst die Menge der Ereignisse, die Resultate virtuell-heterotoper Gegenwelten sind. Hier entsteht auch die Genese von homunculus digitalis (vgl. Sagawe 1997). Durch das Medium Schrift erst wurde der voralphabetische Körper, der homunculus realis, zum alphabetischen Körperselbstbild homunculus textualis umgeschaffen. Durch die Erfindung digitaler Medien evoluierte er zum technomedialen Körper, zum homunculus digitalis.

Die Zeiten, in denen Aussagen auf ihre Wahrheit hin überprüft werden konnten, scheinen unwiederbringlich vorbei zu sein. Begriffe wie "objektive Realität", "Widerspiegelung" und "Abbild" werden – nachdem sie theoretisch schon längst in Frage gestellt wurden – nun ad absurdum geführt und realisieren sich als heterotope virtuelle Realität.

Der zentrale Vorgang am Ende unseres Jahrtausends ist die Virtualisierung des Seins, worunter wir einen Prozeß verstehen, bei dem die Kommunikation mikro- und makrosoziologischer Bereiche zunehmend in virtuellen Räumen stattfindet und eine computergenerierte Entwicklungsumgebung evoziert. Sie führt zu einer neuen Form der Soziabilität. Kulturelle Muster sowie unser Raumbegriff selbst werden sich ändern. Gesellschaftliche Transformations- und Kulturationsprozesse können dabei nur im Kontext der Dialektik von Virtualität und Realität hinreichend erfasst werden.

Bei der Beurteilung der kulturellen Folgen im Hinblick auf die technische Ersetzbarkeit des Menschen als homunculus digitalis oder gar die Kolonialisierbarkeit des Menschenkörpers (vgl. Ellrich 1996) kann mit Virilio (1996) argumentiert werden: Wir müssen zwischen präsemantischer Wahrnehmung und sozialer Kommunikation unterscheiden. Die daraus abgeleitete Kernfrage aber bleibt, ob medial erzeugte Bilder sprachlich geprägte Kontrollmuster zunehmend außer Kraft setzen oder eventuell verstärken.

Man kann die genannte präsemantische Wahrnehmung auf der Folie der konventionellen Body-Mind-Trennung dem Bewußtsein zuschlagen, – um diese dann – wie etwa bei Luhmann (Luhmann 1995), der Kommunikation als eigenständigem System der Sinnesverarbeitung gegenüberzustellen – oder aber als eine Aktivität auffassen, an der sich ein wichtiger Aspekt der körperlichen Einflussnahmen auf die Produktion gesellschaftlich relevanten Wissens niederschlägt. (Ellrich 1996:91)

Literatur:
Ellrich, Lutz (1996) "Der medialisierte Körper – Paul Virilios elektronische Apokalypse" [Vortrag auf dem 28. Kongreß der Deutschen Gesellschaft für Soziologie vom 7.-11.10. 1996 in Dresden], in: Rehberg, Karl-Siegbert (ed) Differenz und Integration. Die Zukunft moderner Gesellschaften. Abstract-Band, Dresden: Westdeutscher Verlag, 91.

Foucault, Michel (1990) "Andere Räume", in: Barck, Karlheinz; Gente, Peter; Paris, Heidi (eds.) Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik. Essays. Leipzig: Reclam (Reclam-Bibliothek 1352: Kunstwissenschaften), 34-46.

Paetau, Michael (1996) "Rationalität in virtuellen Welten" [Vortrag auf dem 28. Kongreß der Deutschen Gesellschaft für Soziologie vom 7.-11.10. 1996 in Dresden], in: Rehberg, Karl-Siegbert (ed) Differenz und Integration. Die Zukunft moderner Gesellschaften. Abstract-Band, Dresden: Westdeutscher Verlag, 251.

Sagawe, Helmuth (1994) Einfluß ‘intelligenter’ Manschinen auf menschliches Verhalten. Opladen: Westdeutscher Verlag.

(1995) "Kommunikatives Handeln: Mensch-Computer", in: LDV, Forum der Gesellschaft für Linguistische Datenverarbeitung GLDV 12.1, 3-8. (1997) homunculus digitalis. Das Sein des Menschen im Cyberspace. Multimedia: Virtualität contra Realität. Sozialpsychologische Überlegungen im Rahmen des Projektes Weiterbildung für Lehrende an der Universität Heidelberg, http://www.dr-sagawe.de/univers/homuk1.htm (Stand: 10.06.1999). Virilio, Paul (1996) Die Eroberung des Körpers. Vom Übermenschen zum überreiztem Menschen. [übers. v. Bernd Wilczek.] Frankfurt am Main: Fischer (Fischer-Taschenbücher 121994).